Der Junge mit dem blauen Fahrradhelm erreicht die kleine Waldlichtung vor den anderen und rennt los. Seine Füße tragen ihn über den Boden, seine Arme schwingen im Takt der Schritte. Der Helm schimmert wenige Sekunden lang immer wieder zwischen den Sträuchern hindurch, bevor er verschwindet. Stille.
Am Rande der Lichtung blickt eine Frau mit langen, braunen Locken dem Jungen nach. „Hier können die Kinder runterkommen. Hier ist kein Lärm, hier hört man keine Autos. Das ist genau das, was Konstantin braucht.“ Ruhe und Zeit, um ganz bei sich zu sein. Um seine Gedanken zu ordnen und seinem Kopf eine Pause zu gönnen.
Konstantin, der Junge mit dem Fahrradhelm, ist sieben Jahre alt und hochbegabt. Intelligenzquotient: 142. Die Frau mit den Locken ist Christine Langern, seine Mutter. Ihre richtigen Namen sollen geheim bleiben. Weil Langern sich und ihren Sohn schützen möchte.
Was Hochbegabung konkret ist, kann niemand sagen. Zu facettenreich ist das Spektrum. Musikalisches Genie, sportliche Höchstleistungen, fotografisches Gedächtnis: Begabung hat viele Gesichter. Etwa zwei Prozent der Deutschen haben einen Intelligenzquotienten jenseits von 130, der klassischen Grenze zur kognitiven Hochbegabung – gut 1,6 Millionen Menschen.
Was ist Hochbegabung?
Definition über den Intelligenzquotienten: IQ über 130
Definition über das Verhalten: überdurchschnittliche Fähigkeit zu gesellschaftlich wertvollem Handeln
Definition über die Körperlichkeit: Fähigkeit zu außergewöhnlichen physischen Leistungen – gilt zum Beispiel für einige Profisportler
Definition über die Kreativität: Fähigkeit, neue Lösungen zu finden oder etwas zu erschaffen, das es vorher noch nicht gab
Ein Gesamtkonzept fehlt
„Jeder hat ein Bild vom hochbegabten Kind“, sagt Langern vor dem Waldspaziergang, früher an diesem Tag. Damit gehen Vorurteile einher: Hochbegabte erbringen immer außerordentliche Leistungen. Sind sozial inkompatible Nerds. Bewegen sich oft im autistischen Spektrum. Im Englischen bezeichnet man Hochbegabte als „gifted“ – beschenkt. Aber Neid, Unverständnis und ein hoher gesellschaftlicher Druck können dazu führen, dass die Gabe zu einer Bürde wird.
„Der ist hochbegabt, deswegen passt er nicht auf, der ist hochbegabt, deswegen hat er kein Mitgefühl – seine Begabung wurde als Grund für alles genannt, was in der Schule schieflief.“
Christine Langern
Gerade in Deutschland ist das so: Mit der Förderung der überdurchschnittlich Intelligenten in den Schulen tut sich das Bildungssystem schwer. Vereinzelte Programme sollen die Bedürfnisse der Begabten befriedigen, indem sie die Schullaufzeit verkürzen oder weiterführende Unterrichtsinhalte vermitteln. Aber ein Gesamtkonzept fehlt. Oft bleibt es an einzelnen Lehrkräften hängen, die Hochbegabten aufzufangen und ihren Wissensdurst zu stillen. Wenn an dieser Stelle jedoch Ausbildung und Engagement fehlen, ist das deutsche Bildungssystem offenbar überfordert.
„Hochbegabung ist wie die Diagnose einer Krankheit“, sagt Langern. Mit vier Jahren lassen Konstantins Eltern ihren Sohn testen. Die Erzieherin im Kindergarten hat ihnen dazu geraten. Konstantin habe sich früh vieles gemerkt, erzählt Langern, und schon damals „über dem Durchschnitt“ gelegen. Als sie und ihr Mann das Ergebnis erhalten, treffen die beiden eine weitreichende Entscheidung: Konstantin wird nichts von seiner Hochbegabung erfahren. Seit kurzem erzählen sie auch niemandem sonst davon. Sie haben im vergangenen Schuljahr – es war Konstantins erstes – schlechte Erfahrung gemacht. „Der ist hochbegabt, deswegen passt er nicht auf, der ist hochbegabt, deswegen hat er kein Mitgefühl. Seine Begabung wurde als Grund für alles genannt, was in der Schule schieflief“, erzählt Langern.
Grundschulklassen speziell für Hochbegabte gibt es in Deutschland nicht – anders als explizit ausgerichtete Gymnasien. Es ist nur eines der Probleme, die Langern nennt. Sie ist konzentriert, spricht bedacht, aber mit einer klaren Meinung. „Meine Forderung ist, dass zum Beispiel das Elterntraining für Erzieher, Pädagogen und Lehrer zur Pflicht wird. Im Laufe eines Berufslebens wird jeder Lehrer mit hochbegabten Kindern zu tun haben.“
Wie Kinder in „Flexklassen“ lernen
SPD-Politikerin Britta Ernst, brandenburgische Kultusministerin und Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, äußert sich auf Anfrage schwammig. Sie nennt „schulpsychologische Angebote von Beratungsstellen und Kompetenzzentren“ unter anderem zur Diagnostik, außerdem seien Maßnahmen für die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften „vorgesehen“. Von einer festen Verankerung in der Ausbildung kann keine Rede sein.
Bund und Länder haben vor drei Jahren allerdings eine Initiative für leistungsstarke Kinder ins Leben gerufen: „Leistung macht Schule“. Das Bundesbildungsministerium und die Länder finanzieren sie zu gleichen Teilen mit insgesamt 125 Millionen Euro. Wenige Kilometer von Konstantins Wohnort in Bayern entfernt liegt eine Grundschule, die an der Initiative teilnimmt und aus sogenannten „Flexklassen“ besteht. Dort lernen die Kinder jahrgangsübergreifend. Wer gut in Mathe ist, bekommt anspruchsvollere Aufgaben. Wer schlecht in Deutsch ist, bekommt einfachere Aufgaben. Diese Grundschule befindet sich aber außerhalb des Schulbezirks, dem Konstantin zugeordnet ist. Seine Eltern und er haben nicht die Wahl.
Tanja Gabriele Baudson, Psychologieprofessorin an der Hochschule Fresenius in Heidelberg, erforscht die Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung von Menschen. Grundschulklassen für Hochbegabte hätten ihrer Meinung nach einen großen Vorteil: Sie würden sich positiv auf die Entwicklung der Kinder auswirken. Dennoch hält sie eine frühe Separierung nicht für sinnvoll. „In der Grundschule haben wir noch fast die gesamte Bandbreite an Fähigkeiten. Das bietet Potenzial, um den Umgang mit Vielfalt zu lernen – für Lehrkräfte und Kinder. Jedes Kind braucht Aufgaben, die es auf seinem Level fordern, und Möglichkeiten, seine eigenen Interessen und Fähigkeiten besser kennenzulernen.“
Bewegung als Ventil
Sonne und Wolken wechseln sich ab an diesem Nachmittag, ein lauer Wind zieht auf. „Das letzte Jahr war richtig beschissen“, sagt Langern. Die Lehrkräfte wissen von Konstantins Hochbegabung, aber nicht, wie sie damit umgehen sollen. Entweder sind sie überfordert. Oder sie sind ignorant. So ist jedenfalls Langerns Sicht. „Sobald ein siebenjähriges Kind anfängt, irgendetwas über Planeten und Astrophysik zu erzählen, bekommen sie Angst. Hochbegabte Kinder fragen, sind wissbegierig. Und das wird anstrengend.“
Nach den Sommerferien ist Konstantin nicht in diese Schule zurückgekehrt. Ein Hauptgrund: das Zeugnis. „Das ist richtig übel“, erzählt Langern. Tatsächlich schreiben die Lehrkräfte wenig Schmeichelhaftes über Konstantin. Musik: „Stetig aufgeregt und mit ununterbrochenem Aufmerksamkeitsbedarf präsentierte sich Konstantin im Musikunterricht.“ Englisch: „Meist bedurfte Konstantin einer strengen Führung, damit es ihm gelingen konnte, in den gemeinsamen Prozess einzusteigen.“ Französisch: „Sich an die Klassenregeln zu halten, war für Konstantin eine große Herausforderung. Meistens war er mit der Ablenkung seiner Mitschüler beschäftigt.“
Langern erinnert sich an ein Gespräch mit dem Klassenlehrer. „Ich bin jetzt kein Psychologe, aber haben Sie mal an eine Therapie gedacht?“, soll er gesagt haben. „Ihm wurde ADHS angedichtet, oder eine Autismus-Spektrum-Störung“, erzählt sie. „Ein Jahr lang habe ich mir den Shitstorm angehört.“ Langerns Aussagen lassen sich nicht nachprüfen. Weil sie nicht möchte, dass Konstantins Fall bekannt wird, hat sie darum gebeten, die Schule nicht zu kontaktieren.
„Wir haben erkannt, dass wir das Individuum in den Fokus rücken müssen. Wenn wir es nicht tun, lassen wir Chancen ungenutzt liegen.“
Britta Ernst (SPD), brandenburgische Kultusministerin und Vorsitzende der Kultusministerkonferenz
Das Ventil des Siebenjährigen ist die Bewegung. Er macht sich bereit zum Sprint. „Ich kann schneller laufen als Neunjährige“, erzählt er. Dann düst er los. Leichtathletik, Fußball, Judo – Konstantin macht viel Sport. Er braucht das.
Auf Kinder wie ihn ist das deutsche Schulsystem nicht ausgerichtet. Es orientiere sich vor allem am Mittelmaß, erklärt Bildungsforscherin Baudson. Mit Schüler:innen zurechtzukommen, die weit vom Durchschnitt abweichen, bedeute dagegen größeren Aufwand. Was nötig wäre? „Letzten Endes eine Individualisierung für jedes einzelne Kind“, sagt Baudson. Britta Ernst, die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, geht sogar noch einen Schritt weiter. Leistungsstärkere gehörten systematisch entdeckt und gefördert, betont sie. „Wir haben erkannt, dass wir das Individuum in den Fokus rücken müssen. Wenn wir es nicht tun, lassen wir Chancen ungenutzt liegen.“
Herausforderung für das Gerechtigkeitsdenken
Der Gesellschaft fällt es scheinbar leichter, leistungsschwächere Kinder trotz Mehraufwands zu unterstützen. Dass bei überdurchschnittlich intelligenten Kindern ebenso besondere Bedürfnisse vorliegen, vernachlässigt sie dagegen eher. Das sei ein Grundproblem der Förderung, tief verankert in der Psyche, sagt Baudson. Eine Herausforderung für das Gerechtigkeitsdenken.
„Ein Kind mit einer Hochbegabung muss genauso gefördert werden wie ein Kind mit einer Lernbehinderung“, sagt Olga Graumann, emeritierte Professorin. Zuletzt hat sie an der Universität Hildesheim zu Integration und Inklusion geforscht. „Und dafür müssten die Lehrer etwas besser ausgebildet werden.“ Man dürfe die Hochbegabten in ihrem Wissensdrang nicht stoppen, mahnt Graumann. „Man versündigt sich, wenn man sehr Begabte nicht angemessen fördert.“ Untersuchungen zeigen: Erhalten Kinder mit einem hohen Intelligenzquotienten keine Förderung, sinkt er auf Dauer.
Konstantins jüngere Schwester wird die Familie nicht testen lassen. „Es hat keinen Mehrwert für sie oder für uns“, sagt Langern. Ob ihr zweites Kind auch hochbegabt ist – ihr Mann und sie wollen es nicht wissen.