Ausgegrenzt, nicht ausgebildet

Den Traumberuf frei wählen – für Menschen mit Behinderung meist unmöglich. Dabei wollte Deutschland eigentlich inklusiver werden. Warum tut sich so wenig?

Von Nathalie Metzel und Judith Brouwers

Lukas Schmucker trägt eine Kiste ins Wohnzimmer und stellt sie behutsam ab. Heraus zieht er eine schwarz-weiß karierte Hose, ein weinrotes T-Shirt mit dem Aufdruck „Brotmanufaktur Schmidt“. Und eine weiße Bäckermütze. Die ist ihm besonders wichtig. Er grinst, als er sie auf seinen blonden Schopf setzt. 

Seit Februar arbeitet Schmucker als Hilfskraft in einer Münchner Backstube. Er formt dort Gebäckstücke. Davon träumte er schon lange. Heute hat er frei. Wie jede:r andere Urlaub zu haben, das ist für Schmucker etwas Besonderes. „Ich bin mega stolz“, sagt er. Schmucker spricht jedes Wort mit Bedacht. Eine reguläre Ausbildung war ihm nicht möglich. Er hat Trisomie 21.

Lukas Schmucker träumt schon lange davon, Bäcker zu werden. Foto: Judith Brouwers

Vor 14 Jahren hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Und sich damit dazu verpflichtet, den allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen zugänglicher zu machen. Getan hat sich seither wenig. Obwohl die Zahl der Menschen mit Behinderung in Deutschland seit Jahren steigt, stagniert ihr Anteil in der Gruppe aller Auszubildenden: Nicht mal einer von hundert Auszubildenden ist ein Mensch mit Schwerbehinderung. Oftmals bleibt nur der Weg in die Werkstätten – für fast alle Beschäftigten eine Einbahnstraße.

Arbeiten für 1,35 Euro Stundenlohn

Lukas Krämer sitzend
Lukas Krämer hat den Weg aus der Werkstatt heraus geschafft. Illustration: Franziska Reeg

Ein Schicksal, dem Lukas Krämer entkommen ist. Er sitzt in seinem Zimmer, vor ihm ein großes Mikrofon, Kopfhörer auf den Ohren. Eigentlich wollte er immer in den Bereich Foto und Film. „Das hat man mir nicht zugetraut – mein Traum wurde in der Schule belächelt“, sagt er. Als er vier Jahre alt war, erlitt er eine Hirnhautentzündung. Seitdem lebt er mit kognitiven Beeinträchtigungen. Lesen und Schreiben kann er nicht. Die Förderschule für geistige Entwicklung verließ Krämer ohne Abschluss. Er landete in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, wo er für 1,35 Euro Stundenlohn Armaturen für Wasserhähne prüfte. Praktika am allgemeinen Arbeitsmarkt habe ihm die Agentur für Arbeit gar nicht erst vermittelt.

Inzwischen ist Krämer 28 Jahre alt und erstellt Videos für die Social-Media-Seiten einer Grünen-Abgeordneten im Bundestag. Daneben betreibt er einen eigenen YouTube-Kanal und kämpft für bessere Bezahlung in Werkstätten. Am Ziel ist er noch nicht. Sein großer Traum: eine Ausbildung zum Mediengestalter.

Georgina Schneid schaut nach links und gestikuliert.
Georgina Schneid hat ihre Ausbildung bei Siemens gemacht. Illustration: Franziska Reeg

320.000 Menschen mit Behinderung arbeiten in Deutschland in Werkstätten. Deren Aufgabe ist eigentlich die Vorbereitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Doch nur jedem hundertsten Beschäftigten gelingt das.

Wenn Georgina Schneid über die Zeit vor ihrer Ausbildung spricht, legt sich ihre Stirn in Falten. „Mir fallen gleich wieder so viele Gedanken, Sorgen ein, die ich damals hatte“, sagt die 30-Jährige. Seit ihrer Geburt ist Schneid gehörlos. Über 50 Bewerbungen hatte sie geschrieben, fast nur Absagen erhalten. 

Mehr als 40.000 Unternehmen stellen keinen Menschen mit Behinderung ein

Eigentlich haben deutsche Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten eine Verpflichtung: Etwa fünf Prozent der Arbeitsplätze müssen Menschen mit Behinderung besetzen. 

Sonst müssen die Unternehmen eine Abgabe zahlen. Diese liegt bei 125 bis 320 Euro monatlich. Keine Summe, die abschreckt: „Wir haben in Deutschland mehr als 40.000 Unternehmen, die nicht mal einen einzigen Menschen mit Behinderung einstellen“, sagt Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung. Er fordert deshalb, die Abgabe zu verdoppeln.

So funktioniert die Beschäftigungsquote

Ab einer Anzahl von mindestens 20 Mitarbeiter:innen sind Unternehmen beschäftigungspflichtig – das heißt, sie müssen Menschen mit Behinderung einstellen. Das Gesetz sieht eine Pflichtquote vor. Sie liegt eigentlich bei fünf Prozent. Hat ein Unternehmen allerdings weniger als 60 Beschäftigte, gibt es Ausnahmeregelungen: Arbeiten in einem Betrieb zwischen 20 und 39 Mitarbeiter:innen, gilt die Quote auch dann als erfüllt, wenn nur ein Mensch mit Behinderung angestellt ist. Beschäftigt ein Unternehmen zwischen 40 und 59 Mitarbeiter:innen, müssen zwei Menschen mit Behinderung eingestellt werden.

In den Personalabteilungen vieler Unternehmen gibt es noch immer Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung. Auf Anfrage äußerten sich sechs Unternehmer:innenverbände nicht zu den Gründen, weshalb viele Betriebe keine Menschen mit Behinderung einstellen. Eine anonymisierte Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt die Vorbehalte auf: unkündbar, ständig krank, wenig belastbar. 

In Wirklichkeit ist die Kündigung nur dann nicht haltbar, wenn sie im direkten Zusammenhang mit der Behinderung steht. Außerdem sind Auszubildende mit Behinderung häufig motivierter als ihre Kolleg:innen. Das sagen 34 Prozent der Unternehmen, die Menschen mit Behinderung ausbilden.

Georgina Schneid erhielt 2011 die Zusage für eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Heute ist sie eine von 3400 Menschen mit Behinderung, die bei Siemens angestellt sind. Sie hat sich ihren Platz im Unternehmen erkämpft – mit Blick auf die offene Tür, damit sie sieht, wenn jemand ihr Büro betritt. „Denn mit Anklopfen kommt man bei mir ja nicht weit“, erzählt sie grinsend.

In den Betrieben kursieren Vorbehalte

Anfangs war vor allem die Kommunikation mit den Kolleg:innen schwer: Schneid spricht als einzige die Gebärdensprache. Die Welt der Hörenden, für Schneid „ein Kulturschock“. Lippenlesen und schriftliche Dolmetscher-Programme waren unzuverlässig und anstrengend. Heute nutzt sie einen Anrufdienst, bei dem Dolmetscher:innen ihre Gespräche in Echtzeit übersetzen. Schneid will ein Vorbild sein. Sie möchte andere ermutigen, sich trotz negativer Erfahrungen nicht beeindrucken zu lassen.

Laut Bertelsmann Stiftung bemängeln über 80 Prozent der Unternehmen unübersichtliche Zuständigkeiten. Zu viele Akteure sind im Spiel: die Agentur für Arbeit, die Integrationsfachdienste, die Förderschulen, die Werkstätten, die Kostenträger. Behindertenbeauftragter Dusel möchte dieses Argument nicht gelten lassen: „Wer Inklusion will, findet Wege. Und wer keine will, findet Ausreden.“

Ab dem kommenden Jahr soll es für Unternehmen eine zentrale Ansprechperson geben, um den Behördendschungel überschaubar zu machen. So steht es in einem Gesetz, das der Bundestag beschlossen hat. „Das ist nur der erste Schritt“, sagt Dusel. Einen Ansprechpartner für alle Belange hätten sich auch die Eltern von Bäckershelfer Lukas Schmucker gewünscht. Sie organisierten seine Anstellung auf eigene Faust. Den Chef der örtlichen Bäckerei überzeugten die Schmuckers, ihren Sohn zum Mindestlohn einzustellen. Dank der Fördergelder, von denen der Bäcker vorher nichts wusste.

Quelle: BAG WfbM
Quelle: BAG WfbM

Quelle: Statistisches Bundesamt, 2019

Veränderungen werden Zeit brauchen

Also alles gut? Nein, es ist nur ein Happy End auf Zeit. Sein Vertrag ist auf zwei Jahre befristet. Danach werden die staatlichen Zuschüsse nicht mehr weiterfließen. „Dann müssen wir andere Töpfe aufmachen und schauen, dass es weitergeht“, sagt Schmuckers Vater. Welchen Kampf er danach führen muss, weiß er noch nicht. Die Familie ist über die Jahre müde geworden, das Recht ihres Sohnes auf Bildung zu erkämpfen.

Dabei ist Wahlfreiheit in der Berufsausbildung keine karitative Aktion, sondern ein Menschenrecht. „Das Recht auf Bildung und auf Arbeit gilt für alle gleichermaßen. Das hängt nicht von irgendwelchen Prämissen ab“, sagt Leander Palleit vom Institut für Menschenrechte.

Er wünscht sich, dass man allen Menschen am Ende der Schulzeit erst einmal alles zutraut – auch jenen mit Behinderung. „In 20 Jahren gibt es hoffentlich die Instrumente, um für jeden einen persönlichen Baukasten zusammenzustellen.“ Eine Möglichkeit für mehr Inklusion könnte auch sein, Teilausbildungen anzubieten, in denen bestimmte Prüfungsaufgaben ausgelassen werden.

Für Lukas Schmucker werden diese Lösungsansätze zu spät kommen. Aber gerade ist er glücklich. Nächste Woche wird er wieder in der Backstube stehen und alle möglichen Gebäckstücke formen. „Ich mache ganz viele Nussschnecken, Apfeltaschen, Croissants und Brezeln.“ Endlich geht es darum, was er kann – nicht darum, was er nicht kann.

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