Nadine Geldhausers Finger huschen auf dem Touchpad umher. Klick. „Da waren wir an den Cliffs von Moher in Galway“, zwei lachende Gesichter mit Klippen im Hintergrund. Klick. „Hier sind wir an unserem klassischen Treffpunkt“, vier junge Menschen, die in der Nachmittagssonne der irischen Hauptstadt ihren Feierabend genießen. Klick. „Das ist eine bekannte Bar in Dublin, da waren wir auch drin, irre teuer, irre voll, aber auch richtig cool“, Geldhauser lacht. Die 21-Jährige sitzt an ihrem Wohnzimmertisch in einem Münchner Vorort und sucht nach Bildern von ihrem Erasmus-Aufenthalt in Dublin. Erasmus ist ein Bildungsprogramm der Europäischen Union, das vor allem jungen Menschen einen Aufenthalt im europäischen Ausland finanziell erleichtern soll.
Bei den ganzen Fotos und Erinnerungen könnte man meinen, ihr Erasmus hätte ein halbes Jahr gedauert. Das hätte es vielleicht auch, wäre Nadine Studentin. Ist sie aber nicht. Sie hat eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau bei einem Juwelier gemacht. Deshalb waren maximal drei Wochen Ausland drin.
Der Weg zum Auslandsaufenthalt ist für Auszubildende schwierig. Sie sehen sich mit zwei Problemen konfrontiert: bürokratische Hürden auf der einen, betriebliche Einschränkungen auf der anderen Seite. Wer als Azubi mit Erasmus+ ins Ausland gehen will, braucht Durchhaltevermögen. Das weiß auch Geldhauser. Ihr Motto: „Alles mitnehmen, was geht!” Zwei Jahre liegt ihr Aufenthalt nun schon zurück. In ihrem Betrieb war sie die erste, die ins Ausland gehen wollte. Erasmus für Azubis? Davon hatte ihre Chefin noch nie gehört, sagt Nadine Geldhauser. Kein Wunder, denn das Programm verbindet man eher mit Studierenden.
Das Plus in Erasmus
Bei seiner Gründung 1987 richtete sich Erasmus nur an Studierende. Seit 2014 trägt das Programm jedoch ein „+” im Namen, soll seither Bildungsprogramme von der Kleinkind- bis zur Erwachsenenbildung fördern. Also auch Auslandsaufenthalte von Azubis. Doch trotz der Namensänderung ist das Programm weiter auf die Hochschulbildung zugeschnitten. Das spiegelt sich auch in den Finanzen wider: Während Auslandsaufenthalte von Studierenden in der aktuellen Programmlaufzeit von 2021 bis 2027 mit knapp 700 Millionen Euro unterstützt werden sollen, kommt dem Bereich der beruflichen Bildung nicht einmal halb so viel zu. Gerade einmal 300 Millionen Euro hat die Berufsbildung für Auslandsaufenthalte zur Verfügung.
Der Bürokratie-Dschungel
Kerstin Offer hat eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten gemacht – ohne Auslandsaufenthalt. „Gedanklich bin ich in der Planung meines Aufenthalts bis zu dem Punkt der Dauer gekommen. Da habe ich so gedacht: Gut, das kann ich schon wieder vergessen, weil das wahrscheinlich zu lang wäre für meinen Betrieb”, erzählt die 25-Jährige, die über Zoom zugeschaltet ist. Offer hat sich nicht getraut zu fragen. Ein verbreitetes Phänomen: Während Auslandsaufenthalte bei Studierenden selbstverständlich sind, schrecken viele Azubis davor zurück, das Thema überhaupt anzusprechen.
Gerne wäre sie mit Erasmus+ ins Ausland gegangen, am liebsten nach Frankreich: „Wegen der Sprache, der Gepflogenheiten, auch für ein bisschen mehr Selbstvertrauen, um mit ausländischen Mandanten und Klienten zu arbeiten, die einen anderen kulturellen Hintergrund haben.” Zur Debatte stand nicht etwa ein halb- oder ganzjähriger Aufenthalt, wie das bei Studierenden gang und gäbe ist. „85 Prozent der Auszubildenden, die ins Ausland gehen, erhalten einen Auslandsaufenthalt von maximal vier Wochen”, erklärt Hans Ulrich Nordhaus vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Offer hätte höchstens für zwei Wochen gehen können und das mache wenig Sinn, sagt sie. „Gerade, wenn man sich ein bisschen einarbeiten und die Arbeitsweise kennenlernen will.“ Die Zeit in Frankreich ist ein unerfüllter Traum geblieben.
Ins Ausland? Azubi Kerstin Offer traute sich gar nicht erst zu fragen.
Viele Azubis kommen gar nicht erst zu diesem Punkt. Sie erfahren in ihrer Ausbildung nie von der Möglichkeit, ins Ausland zu gehen. „Es passiert immer noch, dass Auszubildende oder auch Ausbildungsbetriebe nicht wissen, dass es diese Erasmus-Fördermittel gibt”, sagt Petra Laudemann vom Netzwerk Berufsbildung ohne Grenzen. Kerstin Offers erste Begegnung mit Erasmus+: ein kurzer Vortrag in der Berufsschulklasse. Sie habe gewusst, dass Erasmus+ ein Programm für Studierende sei, „von der Ausbildung kannte ich das überhaupt nicht.“ Solche Vorträge gibt es jedoch nicht an jeder Berufsschule.
Wer zufällig von Erasmus+ erfährt, steht allerdings schon vor dem nächsten Problem: einem Dschungel an Zuständigkeiten, in dem man sich leicht verheddern kann. Bei der Nationalen Agentur beim Bundesinstitut für Berufsbildung (NA BIBB) können sich Betriebe, Berufsschulen und Kammern akkreditieren, wenn sie an Erasmus+ teilnehmen möchten. Läuft in Koblenz die gesamte Planung eines Aufenthalts über die zuständige Handwerkskammer, ist die Handelskammer für München lediglich Informationsquelle für die örtlichen Betriebe und Berufsschulen. Die Frage der verantwortlichen Ansprechpartner:innen bleibt für Azubis damit oft unklar. Diese Unsicherheit, mangelnde Vorbilder im eigenen Bekanntenkreis und ihr junges Alter machen es Azubis schwer, Zugang zum Erasmus+ Programm zu finden. Da stellt sich doch die Frage: Wie viel bringt ein Programm, dass zwar auf dem Papier zu funktionieren scheint, die Teilnehmer:innen aber nicht an die Hand nimmt?
Das Veto der Betriebe
Kerstins Berufsschule, das Max-Weber-Berufskolleg, ist zwar für Erasmus+ akkreditiert. Das bedeutet aber nicht, dass die Auszubildenden größere Chancen haben. Ein Hindernis ist das duale Ausbildungssystem in Deutschland. „Wir müssen den Partnerbetrieb mit an Bord holen, da die Betriebe die Azubis freistellen müssen“, sagt Barbara Stieldorf, verantwortliche Koordinatorin. Genau Kerstin Offers Problem. Ein Auslandsaufenthalt belastet die Betriebe finanziell und personell: Kosten wie Versicherung und Ausbildungsvergütung laufen weiter, ohne dass der Betrieb eine Gegenleistung dafür bekommt. Für eine finanzielle Entlastung zu sorgen, sei Sache der Mitgliedsstaaten, teilt die Europäische Kommission auf Anfrage mit. Das Bundesbildungsministerium sah sich bis Redaktionsschluss nicht in der Lage, eine Stellungnahme zu liefern.
Dass ein Auslandsaufenthalt vor allem für kleinere Betriebe schwer zu stemmen ist, zeigt sich auch in der aktuellen Mobilitätsstudie der NA BIBB. Danach gehen Azubis aus großen Betrieben mit mehr als 250 Mitarbeiter:innen überproportional oft ins Ausland. Wer in einer Kanzlei oder einer Kfz-Werkstatt arbeitet, hat manchmal einfach Pech gehabt.
Irland ist eine super Wahl, fand Nora Herkenraths Chef.
Auch an der Wahrnehmung der Betriebe müsse sich etwas ändern, findet Petra Laudemann vom Netzwerk Berufsbildung ohne Grenzen: „Deren größter Gewinn ist einfach, sich als attraktiver Betrieb profilieren zu können, der seinen Auszubildenden eine besondere Form von Persönlichkeitsentwicklung und Wertschätzung geben kann.” Eine solche Einstellung können sich aber bisher hauptsächlich große Unternehmen und der öffentliche Dienst leisten. So auch der Betrieb von Nora Herkenrath. Die 25-Jährige ist gerade ins dritte Lehrjahr gekommen – Tischler:innenausbildung bei der Bundeswehr. Im September wird sie für zwei Monate nach Irland aufbrechen. „Mein Chef hat gesagt: Mach es, Irland ist eine super Wahl, weil es ein zusätzlicher Vorteil bei der Sprache ist.”
Nora Herkenrath hatte also Glück. Für die meisten Auszubildenden aber gilt: Wer während seiner Ausbildung an Erasmus+ teilnehmen will, muss sich dahinterklemmen. Und hoffen, dass alle Beteiligten zustimmen.
Zack, tschüss, ab geht’s – Nadine Geldhausers Antwort auf die Frage, ob sie nochmal Erasmus+ machen würde.
Zurück im Münchner Vorort erzählt Nadine Geldhauser immer noch von ihrer Zeit in Irland. „Wenn ich irgendwann mal einen Job suche und ins Ausland will, dann soll ich wiederkommen, haben sie gesagt“, sagt Geldhauser und grinst. „Wenn ich könnte, würde ich es auf jeden Fall sofort nochmal machen. Ohne großes Nachdenken, ohne Fragen. Zack, tschüss, ab geht’s!“