„Geh sterben“

Bedroht, beleidigt und bloßgestellt: Rund zwei Millionen Schüler:innen sind im vergangenen Jahr Opfer von Cybermobbing geworden. Die Corona-Pandemie hat das Problem verschlimmert.

Von Teresa Walter

„Es fühlt sich an, als ob man bei Gewitter auf offenem Feld steht, die Nachrichten treffen einen wie Blitze, man kann dem Ganzen nicht entkommen. Man stellt sich immer wieder die Frage: Warum machen die das jetzt mit mir? Warum machen die immer weiter? Und am schlimmsten: Haben sie vielleicht sogar Recht?“

Foto: Cybermobbing-Hilfe e.V.
Foto: Cybermobbing-Hilfe

Lukas Pohland wirkt viel älter als 16, wenn er seine Geschichte erzählt. Gefasst und ruhig, dabei wurde er über Monate massiv beleidigt und bekam sogar Morddrohungen. Und das über Kanäle wie WhatsApp, Instagram, per anonymer SMS, im Klassenchat. Er wollte einer Klassenkameradin beistehen, doch dann richteten sich die Angriffe gegen ihn. Das Perfide: Er wusste genau, wer die Täter:innen waren, saß mit ihnen im gleichen Klassenraum. Bestraft wurden sie nie. Irgendwann hielt er es nicht länger aus und wechselte die Schule. Das ist nun vier Jahre her. Im Mai gründete er die Beratungsplattform Cybermobbing-Hilfe, bei der er und neun weitere Jugendliche online Rat verteilen. „Es fühlt sich gut an, Betroffenen die Hilfe zu geben, die ich damals nicht bekommen habe.“

Ungefähr 17 Prozent der Schüler:innen in Deutschland litten 2020 unter Cybermobbing, insgesamt rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche. Das berechnete das Bündnis gegen Cybermobbing. Auch Lukas Pohland und sein Team von Cybermobbing-Hilfe verzeichneten in der Corona-Pandemie einen starken Anstieg von Anfragen. Bei juuuport haben sie sich gar verdoppelt.

Wer wissen will, warum sich Jugendliche heutzutage online zerfleischen, sollte Fabian Herr fragen. Der Pädagoge arbeitet für das Bündnis gegen Cybermobbing, das 2020 die Studie Cyberlife III durchführte. Hier wurden rund 6000 Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern befragt. Das Ergebnis: Im Vergleich zu 2017 haben sich die Fälle von Cybermobbing um 36 Prozent erhöht. Für den Wissenschaftler mit der ruhigen Stimme ist der Anstieg im vergangenen Jahr vor allem auf die Corona-Pandemie und die Kontaktbeschränkungen für die Jugendlichen zurückzuführen. „Sehr, sehr viele Täter haben zugegeben, dass Langeweile eine große Triebfeder für sie war“, erklärt der 40-Jährige.

Luca

Marius wieder voll am schleimen…was der heute wieder in englisch gebracht hat…

Sandro

wie er der Berger in Arsch kriecht – macht mich so aggro der Pisser

Luca

word! Ich füg den Spast mal hinzu LOL

Darf man sich jetzt im Unterricht nicht mehr melden oder was???

✓ ✓

Luca

ach komm leg dich einfach untern zug hilfst uns allen damit

Sandro

da würd er sich selber und der Welt n gefallen tun

Luca

Von der brücke springen wär auch ok…aber dafür hat der auch nicht die Eier…

Realer Chatverlauf. Quelle: Cybermobbing-Hilfe e.V.

Julia Liebe, die bei juuuport berät, hat bereits in ihrer eigenen Schullaufbahn die Erfahrung gemacht: Lehrer:innen sind bei Cybermobbing oft überfordert, Konsequenzen gibt es selten. Besonders das Verbreiten von Nacktfotos und -videos im Klassenchat sei an ihrer Schule an der Tagesordnung gewesen. Selbst als die Polizei einmal im Klassenzimmer auftauchte und alle Schüler:innen dazu aufforderte, das Foto zu löschen, weigerten sich manche, erzählt sie. Noch heute wird sie wütend, wenn sie davon erzählt: „Ich dachte mir, irgendwas muss man doch machen, sowas muss doch Konsequenzen haben!“

Deshalb schloss sie die Ausbildung zur Beraterin bei juuuport ab. Jeden Tag kümmert sie sich im Team um fünf bis 20 Ratsuchende. In den Anfragen bekommt sie mit, dass die Betroffenen total am Ende sind. Viele kämpfen täglich mit Beschimpfungen, „Du hässliche Kuh“ oder „Geh sterben“ dürften noch die harmloseren sein. Die Täter:innen nutzen dabei unterschiedliche Kanäle. Das spiegelt sich auch in den Studien wider.

Viele hätten den Bezug dazu verloren, was ihre Nachrichten beim Gegenüber anrichten. Und die Folgen sind gewaltig. Kopf- und Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, starke Gewichtsveränderungen. Auch die Psyche leidet. „Je länger die Angriffe dauern, umso mehr bröckelt das Selbstvertrauen“, sagt Herr. Das habe auch Auswirkungen auf die Leistung der Schüler:innen. Sie seien oft nervlich so aufgerieben, dass es für sie gar nicht möglich sei, ruhig und konzentriert in eine Prüfung zu gehen. Beim Distanzunterricht kommt hinzu: Schüler:innen schalten häufig die Kamera aus und geben nur sehr knappe Antworten. Um Mobbingfälle und Verhaltensveränderungen aber überhaupt zu bemerken, brauchen Lehrer:innen den direkten Kontakt zu den Schüler:innen.

„Je länger die Angriffe dauern, umso mehr bröckelt das Selbstvertrauen.“

Fabian Herr, Bündnis gegen Cybermobbing

Bei der Recherche für diesen Artikel wird deutlich: Cybermobbing ist ein Tabuthema, kaum jemand möchte über seine Erfahrungen in der Öffentlichkeit sprechen, zu groß ist die Scham, zu stark der Schmerz, sich an die Angriffe zu erinnern. Berater:innen und Schulpsycholog:innen zögern, einen Kontakt zu Betroffenen herzustellen, sie wollen das mühsam erarbeitete Vertrauen nicht gefährden. 

Keine Straftat: Keine Zahlen

Die Zentrale Ansprechstelle für Cybercrime in Köln ist auf Straftaten im Netz spezialisiert. Doch wie häufig Cybermobbing zur Anzeige gebracht wird, können sie nicht sagen: Das ließe sich aus dem Zahlenmaterial nicht ableiten. Denn: Cybermobbing ist in Deutschland kein eigener Straftatbestand, sondern läuft unter verschiedenen Straftaten wie Beleidigung oder Bedrohung. 

Cybermobbing in der Deutschen Rechtssprechung

Cybermobbing ist kein eigener Straftatbestand. Stattdessen werden darunter viele einzelne Straftaten gezählt. Das sind die häufigsten:

Beleidigung:
Umfasst (wiederholte) Beschimpfungen. Im Kontext von Cybermobbing meist über private Kanäle, die nicht für die Öffentlichkeit sichtbar sind, zum Beispiel Direktnachrichten auf Instagram oder Facebook. 
Strafe: Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Beleidigungen im öffentlichen Raum: bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe.

Verleumdung
Jemand verbreitet bewusst und absichtlich Unwahrheiten über eine Person, meist in der Öffentlichkeit. 
Strafe: Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe. Bei Verleumdungen in der Öffentlichkeit: bis zu fünf Jahre. 

Bedrohung
Ankündigung einer Handlung, die sich gegen die Person richtet.
Strafe: Bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. 

Das ist Lukas Pohland zu wenig, er fordert ein neues Cybermobbing-Gesetz, wie es bereits in Österreich existiert: „Beim Cybermobbing geht es den Tätern vor allem um den psychischen Terror, ihre Opfer über Wochen und Monate zu schikanieren. Das ist dann halt keine einfache Beleidigung mehr, sondern das ist Cybermobbing und da muss es auch klare gesetzliche Regelungen geben!“ Es ist der einzige Moment im Gespräch, in dem seine Stimme lauter wird.

Gesetz könnte nicht ausreichen

Doch die deutschen Gerichte sind laut Fabian Herr überlastet. Viele Fälle könnten verjährt sein, bevor es überhaupt zu einer Verurteilung kommen könnte. Für ihn ist nicht das fehlende Gesetz das Problem, sondern die mangelnde Sozialkompetenz bei den Schüler:innen, die durch Sozialarbeit an den Schulen aufgebaut werden könne. „Wir dürfen das nicht ignorieren, sonst nimmt es ganz, ganz böse Züge an!“ An seine Peiniger:innen von damals denkt Lukas Pohland heute kaum noch. „Die haben mein Leben schon genug gezeichnet.“ Und auf neue Gesetze will er nicht warten. Stattdessen konzentriert er sich darauf, mit seinem Verein anderen Betroffenen zu helfen.

Hilfe 

Du bist selbst betroffen und suchst Unterstützung? Diese Organisationen helfen dir. 

Cybermobbing-Hilfe
Bietet Online-Beratungen an. Versprechen, innerhalb von 24h auf Anfragen zu antworten. 
https://www.cybermobbing-hilfe.de

Juuport
Bieten Beratungen online auf ihrer Plattform oder per WhatsApp an. 
https://www.juuuport.de/beratung

Weißer Ring
Bietet deutschlandweit digitale und persönliche Beratungen an. Auch Begleitung zu Gerichtsterminen möglich.  https://weisser-ring.de/mobbing