An langen, goldenen Stangen hängen weite, orange schillernde Hosen neben königsblauen Westen und pinken Röcken. Sonst ist das kleine Atelier, in dem Mohamad Alhamod steht, minimalistisch eingerichtet. „Nennt mich ruhig Mo oder Mohamad.“ Mit seinem basic-schicken Outfit wirkt er wie ein Ruhepol zwischen den ausgefallenen Klamotten. Auf den Etiketten steht: „We are all travellers.” 2015 flüchten er und viele andere Menschen nach Deutschland. In Syrien ist er vor dem Krieg selbstständig, führt einen Laden mit 14 Angestellten, schneidert Hochzeits- und Abendmode für die obere Mittelschicht. Mohamad designt Mode, seit er 14 Jahre alt ist, doch in Deutschland wird sein Beruf erstmal nicht anerkannt – ein Abschluss fehlt. Um sich dennoch Schneider nennen zu können, macht er die Gesellenprüfung. Innerhalb weniger Wochen wälzt er mühsam die Lehrbücher – voll mit Fachbegriffen in einer Sprache, die er damals noch nicht beherrscht. „Ich gehe immer den schweren Weg”, sagt der 41-jährige Syrer.
Die Anerkennungen kosten Zeit, Geld und sind umständlich. Bis es soweit ist, können Geflüchtete sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen. Stattdessen verbringen sie viel Zeit und Geld damit, Dokumente zu beschaffen und überhaupt eine vergleichbare Berufsausbildung im deutschen System zu identifizieren. Das Problem ist spätestens seit 2015 bekannt, geändert hat sich nur wenig.
Das erlebt Mohamad jetzt auch bei seiner Frau. Nour Alhamod ist an diesem Tag nicht da, ist auf dem Weg in den Urlaub. Mohamad erzählt, dass sie 2017 nachgezogen ist. Sie ist Pädagogin, hat fünf Jahre an der staatlichen Universität in Damaskus studiert. „In Syrien hätte sie als Lehrerin arbeiten können”, erzählt er. „Und dann wurde ihr im Jobcenter vorgeschlagen, doch eine Ausbildung zur Kinderpflegerin zu machen.” Das ist für Nour aber keine Option. Ob und wie ihr Bachelor aus Syrien anerkannt wird, ist ungewiss. Sie muss jetzt Deutsch auf Muttersprachniveau lernen – und zugleich drei Kinder betreuen. Das Anerkennungsverfahren lassen die beiden deshalb erst einmal ruhen.
Dass es für Geflüchtete aufwändig und schwer ist, zu beweisen, dass sie qualifiziert sind, liegt unter anderem an den unterschiedlichen Bildungssystemen. Ein duales Ausbildungssystem mitsamt Berufsschule wie in Deutschland gibt es in Syrien oder im Irak nicht.
Einheitlichkeit
Durch das Zusammenspiel von Berufsschule und Betrieben gewährleistet das duale Ausbildungssystem in Deutschland einen Qualtitätsstandard. Alle Absolvent:innen einer Ausbildung sollen in ihrem Beruf zunächst den selben Wissensstand haben. Ganz praktisch heißt das: Beim gelernten Elektroniker, der in mein Haus kommt, kann ich mich darauf verlassen, dass die Kabel fachgemäß verlegt werden ein Qualitätssiegel.
Durch das 2012 in Kraft getretene Anerkennungsgesetz bekamen Migrant:innen, egal woher sie kommen, in Deutschland erstmals das Recht, ihren Abschluss mit einem deutschen zu vergleichen. Mohamad hat aber keinen formalen Abschluss: „Ich habe in vielen verschiedenen Betrieben mein Handwerk gelernt”, sagt er. Nour dagegen fehlen Dokumente über ihre Noten, erzählt Mohamad. Die braucht sie von der Universität in Damaskus: „Ohne Schmiergeld geht da meist nichts. Die wissen natürlich, wir sind in Deutschland, brauchen diese Dokumente dringend, und sie riechen eine Chance auf Geld.” Belegen lässt sich das nicht, aber viele Geflüchtete berichten von solchen Situationen in Syrien. Wenig Geld, fehlende Dokumente, kein formaler Abschluss – Probleme, die vor allem Geflüchtete kennen.
Das Anerkennungsgesetz
Damit sollte alles einfacher werden: „Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen” ist der eigentliche Name des 2012 in Kraft getretenen Anerkennungsgesetzes. Artikel 1 enthält das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz, das einen Anspruch auf ein Anerkennungsverfahren garantiert. In der Praxis wird meist zwischen Migrant:innen aus EU-Ländern und aus Drittstaaten unterschieden.
Das Gute: Der Antrag kann in den meisten Fällen ohne Berücksichtigung des Aufenthaltstitels und der Staatsangehörigkeit sowie aus dem In- und Ausland gestellt werden.
Das Schlechte: Neben dem Anerkennungsgesetz gibt es noch die Ländergesetze samt Regeln für einzelne Berufe. Im Detail bleibt es also kompliziert.
Kaum verlässliche Daten
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung kam 2019 zu dem Schluss, dass das jetzige Anerkennungssystem für neun von zehn Geflüchteten nicht geeignet sei. Denn laut Bundesagentur für Arbeit haben 87 Prozent der Geflüchteten keinen formalen Abschluss, dafür aber Berufserfahrung. Dennoch zeigt ein Bericht des Bundesinstituts für Berufsbildung, dass im Jahr 2018 nur rund 2,7 Prozent der Anerkennungsverfahren von Geflüchteten aus den Hauptherkunftsländern abgelehnt wurden. Die Zahlen beziehen sich jedoch nur auf bundesrechtlich geregelte Berufe wie Ärzt:innen oder Krankenpfleger:innen. Dennoch: Das Gesetz scheint ein voller Erfolg. Doch die Zahlen trügen. Die Ämter melden die Verfahren nur, wenn alle Unterlagen da sind. Wenn Dokumente fehlen, die Hürden von vornherein zu groß sind, so dass wegen Aussichtslosigkeit von einem Verfahren abgeraten wird, werden die Fälle nicht gemeldet. Deshalb gibt es keine verlässlichen Daten.
Zwischen Mohamads Füßen, neben seiner Cappuccino-Tasse, klingelt sein Handy. Seine Frau ist dran, sie ist mit zwei großen Koffern und drei Kindern am Nürnberger Bahnhof gestrandet. „Typisch Deutsch”, sagt Mohamad, „du weißt einfach nicht, was der nächste Schritt ist.” Am Abend zuvor, erzählt er, habe er online nach der einfachen Auskunft gesucht, ob bei einer Fahrt mit der Deutschen Bahn ein Coronatest gebraucht wird. „Da haben sich tausend Fenster geöffnet” – unübersichtlich. So ähnlich sei das damals gewesen, als er Informationen zum Anerkennungsprozess gesucht habe.
Zwar gibt es ein ganzes Netzwerk an Informationsportalen, doch die Fülle scheint schlicht erschlagend. Dazu kommt, dass für die Anerkennung eines Berufsabschlusses je nach Beruf und Bundesland verschiedene Stellen zuständig sind – in München können das unter anderem die Regierung von Oberbayern, die Industrie- und Handelskammer (IHK) oder die Handwerkskammern (HWK) sein. Für akademische Abschlüsse dagegen kann in den meisten Fällen nur eine Zeugnisbewertung bei der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB) beantragt werden. Und auch die Lage in den Bundesländern ist unterschiedlich. Lehrer:innen aus Drittstaaten können beispielsweise in Bayern überhaupt kein Anerkennungsverfahren beantragen.
Zeugnisbewertung
Für die meisten ausländischen Hochschulabschlüsse gibt es kein Anerkennungsverfahren. Stattdessen wird eine Zeugnisbewertung bei der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB) beantragt. Das kostet beim ersten mal 200 Euro, bei jedem weiteren Antrag 100 Euro.
Die ZAB stellt dann ein Dokument aus, das den Abschluss beschreibt und ihn mit einem deutschen Hochschulabschluss vergleichbar macht. Sie informiert auch über weitere Studienmöglichkeiten. Die Bewertung ist keine Anerkennung, sondern soll der Transparenz dienen.
„Selbst ich, die ich neun Jahre als Beraterin arbeite, muss manchmal noch Gesetze und Regelungen nachsehen”, sagt Melanie Nowack. Sie berät Migrant:innen bei der Servicestelle zur Erschließung ausländischer Qualifikationen in München. Täglich trifft sie – mittlerweile meist online – Migrant:innen, darunter Geflüchtete, die sie durch den Anerkennungsdschungel führt. Die ehemalige Lehrerin ist hilfsbereit und geduldig, erklärt Dinge auch doppelt und dreifach. „Die Beratungen sind sehr gefragt”, sagt die Frau mit der hippen, bunten Blumen-Bluse. Sie beginnt mit den einfachen Dingen, erklärt Dokumente und Anträge. Laut einer unabhängigen Analyse der Arbeit der Münchner Servicestelle erhöht sich damit die Wahrscheinlichkeit, dass Migrant:innen einen Antrag stellen, auch die Verfahren selbst wurden kürzer.
Kosten als Problempunkt
„Das Verfahren ist immer noch zu langwierig, zu teuer und zu komplex“, so fasst es Martina Müller-Wacker zusammen. Schon 2006 legte sie mit einer Kollegin in der Studie „Brain Waste“ Mängel und Diskriminierungen im Anerkennungssystem offen. Die Studie hatte maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung des Anerkennungsgesetzes. Gerade die Kosten könnten für viele Geflüchtete immer noch zum Problem werden. „Von wenigen hundert bis hin zu mehreren tausend Euro ist alles dabei“, erklärt die Expertin. Mohamad Alhamod sollte für seine Gesellenprüfung 700 Euro zahlen. Nach langer Diskussion übernahm das Jobcenter aber die Kosten für die Prüfung, erinnert er sich.
Er wünscht sich, dass in Zukunft häufiger gefragt wird, welche Fähigkeiten die Menschen nach Deutschland mitbringen. Dafür gibt es laut Martina Müller-Wacker auch gesetzliche Vorgaben. Die seien aber in der Praxis noch nicht wirklich umgesetzt. Sie wünscht sich, dass künftig auch ohne vollständige Dokumente mehr auf die individuellen Berufserfahrungen und Fähigkeiten geschaut wird. Bei Expert:innen gibt es dafür ein Fachwort: „Qualifizierungsanalyse.“
Im Februar 2017, zwei Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland, bekommt Mohamad das Ergebnis seiner Schneidersprüfung. „Das war ein sehr glücklicher Tag”, sagt er und zeigt ein Bild auf Instagram: langer, grauer Mantel, brauner Schal und ein breites Grinsen. Nur zwei Monate hatte er Zeit, um den Stoff aus eigentlich drei Jahren dualer Ausbildung nachzuholen. Mohamad hat an seine Fähigkeiten geglaubt. Den Deutschen musste er sie erst beweisen.