Wenn Leo Hofmann über das vergangene Schuljahr spricht, dann schlägt er die Hände vor dem Gesicht zusammen. Immer tiefer sinkt er in die dunkelgrauen Kissen der Sofagarnitur auf der Terrasse. Leo spricht leise, der Lärm der Hauptstraße in Eching bei München übertönt ihn fast. „Was ich scheiße finde: Corona und Maske. Und Homeschooling“, sagt er. Es scheint, als wolle der Siebenjährige diese Wörter nicht aussprechen. Die Wörter, die das vergangene Schuljahr geprägt haben. Es war das erste Schuljahr, das durchgehend von der Pandemie bestimmt wurde. Leo kennt nichts anderes. Leo war in der ersten Klasse.
Ähnlich ging es im vergangenen Jahr mehr als 750.000 Erstklässler:innen in Deutschland. Wegen der Pandemie verbrachten sie weite Teile ihrer Schulzeit im Wohnzimmer, lernten ihre Klassenkamerad:innen nur über den Monitor kennen. Fast jedes vierte Kind beschäftigte sich im zweiten Lockdown nicht mehr als zwei Stunden am Tag mit Unterricht. Auch das Toben auf dem Schulhof fiel weg. Es scheint, als würden Erstklässler:innen auch eineinhalb Jahre nach Pandemiebeginn noch immer vergessen werden.
Nun steht für Leo das zweite Schuljahr an und die Lage hat sich kaum verbessert: Probleme mit Lernplattformen, nicht bestellte Luftfilter, undurchsichtige Teststrategien. Die Liste der Probleme an den Grundschulen ist lang. Obwohl die vierte Welle pünktlich zum Schulstart auf das Land zurollt.
Vor allem Schulanfänger:innen und ihre Familien fühlen sich vergessen. Stellt man Leos Mutter Sabine die Frage nach den Entscheidungen der Politiker:innen, ist die Antwort eindeutig: „Man darf nicht mehr zuerst die Schulen schließen.” Jede zweite Woche sind Leo und sein großer Bruder bei ihr. Ihren Vollzeitjob konnte die Chemikerin nur ausüben, weil es die Notbetreuung für Alleinerziehende gibt. Denn im Winter haben sie das mit dem Homeschooling nur kurz durchgehalten. Was in der Schule bis 11 Uhr dauerte, war zuhause nicht vor 16:30 Uhr erledigt. Nach kurzer Zeit hatte auch Leo erkannt: „Das war bisschen eine Katastrophe.” Sie reden offen – aber nur, wenn sie in diesem Text anders heißen.
„Diese Kinder sind um einiges betrogen worden“, sagt Klaus Hurrelmann. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der Bildungsforscher mit der Situation von Erstklässler:innen. Der symbolische Eintritt in die Gesellschaft und in ein Leben außerhalb des Elternhauses. All das ist laut Hurrelmann weggefallen. Das Ergebnis: „Es ist eindeutig, dass ein Drittel der Schülerinnen und Schüler ganz starke Defizite aufweist in allen Bereichen“, so der Forscher.
Hurrelmann befürchtet langfristige Folgen für die Schüler:innen: „Eine Generation Corona, die ausbaden muss, was an Ausfällen im Bildungsprozess zustande gekommen ist.“ Das betreffe nicht nur das Lesen und Schreiben, sondern auch die Psyche der Kinder. „Sorgen und Ängste haben zugenommen, auch depressive Symptome sind verstärkt zu beobachten“, heißt es in der COPSY-Studie (Corona und Psyche) vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, an der Hurrelmann mitgearbeitet hat. Besonders betroffen: Kinder aus ärmeren Familien oder mit Migrationshintergrund.
Im Münchner Stadtbezirk Au-Haidhausen scheint die Sonne. Zwischen Villen und Parkanlagen liegt das Münchner ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. Larissa Zierow sitzt an einem hölzernen Konferenztisch. Sie ist selbst Mutter und hat einen fünfjährigen Sohn, der bald eingeschult wird.
Zierow weiß, was auf sie zukommen könnte. Denn: Mit Schulschließungen hat sich die stellvertretende Leiterin des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik ausführlich beschäftigt. Kolleg:innen und sie haben herausgefunden, dass nur sechs Prozent der Schulkinder im ersten Lockdown jeden Tag Online-Unterricht hatten.
Auch im vergangenen Winter hatte nur jedes vierte Kind täglichen Unterricht. Wenig überraschend gab es vor allem an den Grundschulen nur selten Online-Unterricht. „Da fehlen dann die wichtigen Bausteine, auf die man aufbauen kann“, sagt Zierow.
Nicht alle Eltern konnten ihren Kindern helfen
Trotzdem gibt es auch Erstklässler:innen, die das vergangene Schuljahr gut geschafft haben. So wie Nina Fiedler in Unterschleißheim bei München, die eigentlich anders heißt. Eine pinke Maske mit sechs unterschiedlich großen Schmetterlingen verdeckt ihr Gesicht. Fragt man sie nach ihrem ersten Corona-Schuljahr, antwortet sie gut gelaunt: „Alles gut.“ Zu verdanken hat das Nina vor allem ihrer Klassenlehrerin. Ein echter Glücksgriff sei die gewesen, sagt auch Vater Dominik. Corona? Für Nina bedeutet das vor allem selbstständiges Arbeiten.
So gut wie das mit sieben Jahren eben geht. Bei den Videokonferenzen im Winter haben ihre Eltern sie oft einfach machen lassen. Das einzige, was sie erledigen mussten: jeden Freitag zur Grundschule fahren, um die neue Aufgaben abzuholen und die alten abzugeben.
Doch in vielen Familien sah es anders aus. Sabrina Wetzel aus dem Vorstand des Bundeselternrates sorgt sich um die Eltern, die ihren Kindern nicht so gut helfen konnten. Weil sie berufstätig sind. Weil sie der Sprache nicht mächtig sind. Oder weil sie aus bildungsfernen Bereichen kommen: „Die wurden nicht ernst genommen. Besonders hart war es für alleinerziehende Elternteile.“
Die Sozialarbeiterin Franziska Poltinger hat mit ihren Kolleg:innen die Arbeitsmaterialien von Tür zu Tür gebracht. „Wo die Eltern dahinter waren, hat alles geklappt“, berichtet sie. Wo sie es nicht waren, klafft jetzt eine große Lücke.
Bevor Poltinger über ihre Arbeitswoche spricht, atmet sie tief durch. Die Münchnerin ist seit Pandemiebeginn im Dauereinsatz. Sie arbeitet an einer Grundschule in München-Neuperlach. Die Hochhaussiedlung gilt als sozialer Brennpunkt. „Die beengten Wohnverhältnisse waren ein wahnsinniges Problem. Viele hatten nur ein Smartphone, das sie sich zu viert teilen mussten“, sagt Poltinger.
Einzelkämpfer:innen statt Gemeinschaft
Besonders betroffen sind die Erstklässler:innen. „Die Kinder haben das soziale Miteinander komplett verlernt“, erzählt sie. Es werde wahnsinnig viel geprügelt und gestritten. In den ersten Klassen habe sie daher Sozialtrainings organisiert.
„Bei den Erstklässlern haben wir die Herausforderung, dass die Kinder zum Schulbeginn oft Einzelkämpfer sind“, erläutert Edgar Bohn. Wie der Bundesvorsitzende des Grundschulverbands erläutert, sei eine der Hauptaufgaben der ersten Klasse, aus diesen Einzelkämpfer:innen eine sozial funktionierende Gemeinschaft zu schaffen. „Das war jetzt kaum möglich“, sagt Bohn. Der pensionierte Schulleiter hat zum Schuljahresende seine ehemalige Grundschule in Freiburg besucht. Einige Kinder hätten die Lehrkräfte schlichtweg nicht mehr erreicht. Die Gefahr drohe, dass sie langfristig zurückfallen.
Die Bundesregierung hat sich ein Jahr Zeit gelassen, bevor sie auf all das reagiert hat. Erst im Mai 2021 hat sie das „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ vorgestellt. Mit zwei Milliarden Euro sollen die Lernlücken gefüllt und Freizeitaktivitäten gefördert werden. Die Wörter „Erstklässler“ oder „Schulanfänger” tauchen in dem Programm nicht dezidiert auf.
Auf Anfrage verweist das Bundesbildungsministerium erst einmal darauf, dass man auf diese besondere Situation sehr schnell reagiert habe. Mit verschiedenen Programmen habe man beispielsweise Schüler:innen und Lehrkräften Laptops zur Verfügung gestellt. In Bezug auf die Erstklässler:innen sieht das Ministerium Handlungsbedarf. Doch mit Blick auf mögliche Langzeitschäden der Kinder verweist man gerne auf die Länder.
Auch in Leos Heimat Bayern teilt das Kultusministerium auf Anfrage mit, die Rolle der Klassenlehrer:innen und Eltern habe sich in der Pandemie bewährt. Hinweise auf flächendeckende Verschlechterungen der Schreib- und Lesefähigkeiten lägen nicht vor. Grund für Eile sieht das Ministerium nicht. Die Lehrpläne gelten ohnehin immer für zwei Jahrgangsstufen, wie es von Seiten einer Sprecherin heißt. Was man bis jetzt nicht geschafft habe, könne man im nächsten Schuljahr nachholen.
Bildungsforscher befürchtet Langzeitschäden
Es gibt Wissenschaftler:innen, die das stark bezweifeln. Bildungsforscher Hurrelmann etwa verweist auf die verschiedenen Entwicklungsphasen bei Kindern. „Wir haben es hier mit Zeitfenstern zu tun, die sich wieder schließen“, sagt er. In vielen Bereichen könnte der Schaden durch die Schulschließungen also unwiderruflich sein.
Zum ersten Mal überhaupt einen Stift halten, die Konzentration für Hausaufgaben aufbringen oder auch Zeile für Zeile einen Text lesen: Nach der ersten Klasse hätten Kinder immer weniger Lust darauf, diese Dinge zu lernen. Und irgendwann ist es dann zu spät. Um das zu verhindern, fordern Verbände und Eltern vor allem eins: Präsenzunterricht. Die kleinsten Schüler:innen müssten so lange wie möglich am Unterricht in der Schule teilnehmen können. Leo und Nina stimmen dem auf jeden Fall zu.
Zurück in Eching. Gerade kommt Leo aus der Wohnung auf die Terrasse gelaufen. Er hat die Ortszeitung vom vergangenen Jahr geholt, möchte etwas zeigen. Stolz schlägt er die Seite mit dem Foto seiner Klasse auf. Die Kinder sitzen dort mit ihren Schultüten auf ihren Plätzen, damals noch ohne Maske. Da waren sie noch alle in einem Raum. Ohne Notbetreuung, Wechselunterricht und Videokonferenzen. Nichts mehr als das wünscht sich Leo für die zweite Klasse.